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Evolution und Diversität der Primaten

Betrachtet man die heute lebenden Arten der Ordnung der Primaten, stößt man auf eine erstaunliche Vielfalt in Größe, Aussehen und Spezialisierungen, so dass es manchmal unglaublich scheint, dass sie alle von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Dieser gemeinsame Vorfahre entstand, als sich die sogenannten Primatomorpha in den Vorfahren der heutigen Riesengleiter (Dermatoptera) und den ersten Primaten aufspalteten und lebte vor ungefähr 80 Millionen Jahren. Die nächsten Verwandten der Primaten sind also nicht, wie lange geglaubt, die Spitzhörnchen (Scandentia) sondern katzengroße Säugetiere, deren Besonderheit eine Flughaut ist, die alle Extremitäten und den Schwanz umspannt und mit deren Hilfe die Tiere von Baum zu Baum gleiten können (Mason et al. 2016). Während die Ordnung der Riesengleiter heute nur noch zwei in Südostasien lebende Arten umfasst, werden bei den Primaten über 500 Arten in 16 Familien unterschieden. Die Zahl der Arten ist in den vergangenen 20 Jahren durch die neuen Möglichkeiten der Artunterscheidung mit genetischen Methoden rasant gestiegen (Estrada et al. 2017)

Kattas (Lemur catta) gehören zu den Feuchtnasenprimaten und besitzen feuchten und unbehaarten Nasenspiegel. Foto: Manfred Eberle
Kattas (Lemur catta) gehören zu den Feuchtnasenprimaten und besitzen feuchten und unbehaarten Nasenspiegel. Foto: Manfred Eberle

Die Diversifizierung der Primaten begann vor ungefähr 68 Millionen Jahren mit der Aufspaltung in Feuchtnasenprimaten (Strepsirrhini) und Trockennasenprimaten (Haplorrhini) (Finstermeier et al. 2013), gut erkennbar an ihrem feuchten unbehaarten Nasenspiegel beziehungsweise ihrer trockenen behaarten Nase. Bei den Feuchtnasenprimaten unterscheidet man heute zwei Gruppen, die Lemuren (Lemuriformes) und die Loriartigen (Lorisiformes). Die Lemuren leben ausschließlich auf Madagaskar und den Komoren und umfassen fünf Familien mit 106 Arten, zu denen die kleinsten Primaten der Welt, die Mausmakis, gehören. Zu den Loriartigen gehören die Familien der Loris und der Galagos. Während sich die afrikanischen Galagos mit ihren langen Hinterbeinen springend fortbewegen, sind bei den langsamen Loris der Daumen und die Großzehe verstärkt und der zweite Finger beziehungsweise Zeh extrem reduziert, was ihnen den Namen „Greifzangen-Kletterer“ einbrachte.

Rhesusaffen (Macaca mulatta) gehören zu den Trockennasenprimaten und unterscheiden sich in einer Reihe von Merkmalen von den Feuchtnasenprimaten, wie etwa dem Nasenspiegel. Foto: Kurt Fahrner
Rhesusaffen (Macaca mulatta) gehören zu den Trockennasenprimaten und unterscheiden sich in einer Reihe von Merkmalen von den Feuchtnasenprimaten, wie etwa dem Nasenspiegel. Foto: Kurt Fahrner

Den Feuchtnasenprimaten gegenüber stehen die Trockennasenprimaten, die sich vor rund 64 Millionen Jahren in Koboldmakis (Tarsiiformes) und eigentliche Affen (Anthropoidea) aufgespalten haben. Die Familie der kleinen nachtaktiven Koboldmakis mit den großen Augen lebt mit elf Arten in Südostasien. Vor rund 46 Millionen Jahren erfolgte die Aufspaltung der Affen in Breitnasen- (Platyrrhini) und Schmalnasenaffen (Catarrhini), die wie ihre Namen besagen, ausschließlich in Süd- und Mittelamerika beziehungsweise in Afrika und Asien beheimatet sind. Ein deutliches Unterscheidungsmerkmal von Breitnasen- und Schmalnasenaffen ist, wie der Name andeutet, die Form der Nase. Während bei den Breitnasenaffen die Nasenscheidewand breit ist und die runden Nasenlöcher nach außen zeigen, ist die Nasenscheidewand bei den Schmalnsaenaffen schmal und die eng beieinanderstehenden Nasenlöcher zeigen nach vorn beziehungsweise nach unten.
 

Der Schurbarttamarin (Saguinus mystax) gehört zu den Breitnasenaffen. Foto: Julia Diegmann
Der Schurbarttamarin (Saguinus mystax) gehört zu den Breitnasenaffen. Foto: Julia Diegmann

Breitnasenaffen umfassen 181 Arten in fünf Familien, die zum Teil besondere Spezialisierungen aufweisen. Bei den Krallenaffen (Callitrichidae) sind die Nägel, mit Ausnahme der Großzehe, zu Krallen umgeformt, was den kleinen Tieren das Klettern an senkrechten Baumstämmen ermöglicht. Bei den Klammerschwanzaffen (Atelidae) dagegen ist der hintere untere Teil des Schwanzes haarlos und mit Tastfeldern versehen, dient als Greifschwanz und wird oft als die Fünfte Hand bezeichnet.
 

Guineapaviane (Papio papio) sind Schmalnasenaffen und gehören zur Familie der Meerkatzenverwandten. Foto: Julia Fischer
Guineapaviane (Papio papio) sind Schmalnasenaffen und gehören zur Familie der Meerkatzenverwandten. Foto: Julia Fischer

Die Schmalnasenaffen spalteten sich vor ungefähr 31 Millionen Jahren in die Meerkatzenartigen, auch Geschwänzte Schmalnasenaffen genannt (Cercopithecoidea), und die Menschenartigen (Hominoidea), die keinen Schwanz besitzen. Die Meerkatzenverwandten (Cercopithecidae) sind die einzige Familie der Meerkatzenartigen, die mit 160 Arten die artenreichste innerhalb der Primaten darstellt. Man unterscheidet zwei große Unterfamilien, die Schlank- und Stummelaffen (Colobinae) und die Backentaschenaffen (Cercopithecinae). Schlank- und Stummelaffen kommen sowohl in Afrika als auch in Südostasien vor und haben sich mehr oder weniger auf die Ernährung mit Blättern spezialisiert. Dafür haben sie einen mehrteiligen Magen mit Cellulose-abbauenden Bakterien, ähnlich wie die Wiederkäuer. Die Backentaschenaffen dagegen sind Allesfresser, die ähnlich wie ein Hamster ihre Nahrung in Backentaschen verstauen können. Zu ihnen gehören die bekanntesten Primatenarten, wie Paviane, Rhesusaffen oder die buntgesichtigen Mandrills.

Der Nördliche Weißwangen-Schopfgibbon gehört zu den Kleinen Menschenaffen Foto: Tilo Nadler
Der Nördliche Weißwangen-Schopfgibbon gehört zu den Kleinen Menschenaffen Foto: Tilo Nadler

Bei den Menschenartigen unterscheidet man die sogenannten Kleinen Menschenaffen, die Gibbons (Hylobatidae), von den Großen Menschenaffen (Hominidae). Die beiden Familien haben sich vor ungefähr 20 Millionen Jahren voneinander getrennt. Gibbons sind Baumbewohner und leben in kleinen Familiengemeinschaften in den Regenwäldern Südostasiens. Wie alle Menschenaffen haben sie keinen Schwanz. Es gibt 20 verschiedene Gibbonarten. Zu den Großen Menschenaffen gehören die drei Orang-Utan-Arten, zwei Gorilla- und zwei Schimpansenarten sowie die einzige heute noch lebende Menschenart Homo sapiens. Während sich die Orang-Utans und die Gorillas bereits vor 15 beziehungsweise acht Millionen Jahren von den übrigen Menschenaffen trennten, lebte der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpansen bis vor ungefähr sechs Millionen Jahren (Mittermeier et al. 2013).

Ein Park Ranger liest inmitten einer nach Futter suchenden Gruppe von Anubispavianen (Papio anubis) im Lake Manyara Nationalpark im Tansania. Foto: Filipa Paciência
Ein Park Ranger liest inmitten einer nach Futter suchenden Gruppe von Anubispavianen (Papio anubis) im Lake Manyara Nationalpark im Tansania. Foto: Filipa Paciência

Stammt der Mensch vom Affen ab?

Für den naturwissenschaftlich gebildeten Menschen steht es wohl heutzutage außer Frage, dass der Mensch, wie alle anderen Lebewesen auch, ein Produkt der Evolution ist und dass es einen gemeinsamen Vorfahren aller heute lebenden Primaten, einschließlich des Menschen, gegeben hat. Das Problem scheint daher eher ein semantisches zu sein: Wie bezeichnen wir unsere gemeinsamen Vorfahren? Wissenschaftlich korrekt ist in jedem Fall die Bezeichnung „Primat“. In der deutschsprachigen Wissenschaft bezeichnet man die Anthropoidea, jene Gruppe, die sich nach Aufspaltung der Trockennasenprimaten von den Koboldmakis getrennt hat als „eigentliche Affen“, in neuerer Literatur auch nur noch als „Affen“. Diese beinhalten alle Familien der Breitnasen- und Schmalnasenaffen, einschließlich Menschenaffen - und damit den Menschen. Wenn man also bereits diesen ersten Anthropoiden, der vor 64 Millionen Jahren lebte, als Affen bezeichnet, muss man folgerichtig davon ausgehen, dass unsere Vorfahren der letzten 64 Millionen Jahre Affen waren. Es bleibt also nur eine einzige logische Antwort auf die Frage: Der Mensch stammt nicht nur vom Affen ab, er ist auch einer.

Der Stammbaum der Primaten stellt die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den heute lebenden Primatengruppen und den zeitlichen Ablauf ihrer Evolution dar. Layout: Luzie Julia Almenräder, Illustration Primaten: Stephen Nash
Der Stammbaum der Primaten stellt die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den heute lebenden Primatengruppen und den zeitlichen Ablauf ihrer Evolution dar. Layout: Luzie Julia Almenräder, Illustration Primaten: Stephen Nash