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Mehr Variabilität hilft beim Lernen
Das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft ist in vollem Gange, das Stadion ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Fans grölen, es herrscht Blitzlichtgewitter. Ein Freistoßschütze macht sich bereit, nimmt Anlauf und schießt. Freistöße hatte er im Vorfeld tausendmal geübt, allerdings nur auf dem heimischen Trainingsgelände und nicht in einem vollen und lauten Fußballstadion mit wechselnden Lichtverhältnissen und veränderter Schussposition. Wird ihm der Treffer trotzdem gelingen? Neurowissenschaftler am Deutschen Primatenzentrum (DPZ) – Leibniz-Institut für Primatenforschung und am European Neuroscience Institute (ENI) in Göttingen wollten herausfinden, wie unser visuelles System die Herausforderung variabler Reize für Lernprozesse löst. Gibt es Strategien auf neuronaler Ebene, die dazu führen, dass die Aufgabe trotzdem immer mit gleicher Leistung erfüllt werden kann? In einer Studie mit menschlichen Probanden fanden sie heraus, dass viele veränderliche Reize das Lernen einer Aufgabe nicht unbedingt erschweren, sondern sogar dazu führen können, dass diese unter neuen Bedingungen besser erfüllt wird. Das geschieht durch einen Verallgemeinerungsprozess, der über Neuronen in höheren Arealen des visuellen Systems gesteuert wird. Sie verarbeiten dabei nur aufgabenrelevante Informationen wie den Schuss ins Tor. Für irrelevante Reize wie andere Lichtverhältnisse oder Schusspositionen sind sie weniger sensibel. Das führt dazu, dass eine Aufgabe auch dann noch sicher ausgeführt werden kann, wenn sich irrelevante Reize ständig ändern. Für den Fußballspieler heißt das, dass variable Trainingssituationen für den Lernprozess von Vorteil sind (Current Biology).
Ein grundlegendes Problem der Wahrnehmung besteht darin, relevante Informationen aus einer sehr variablen Umwelt herauszufiltern. Bekannt ist, dass das visuelle System das erreicht, indem es lernt, welche Informationen gleichbleibend sind. Einen Hund erkennen wir beispielsweise immer als Hund, auch wenn sich unser Blickwinkel ändert oder er eine Hundejacke trägt. Dieser Verallgemeinerungsprozess verbessert die Wahrnehmungsleistung und wird perzeptuelles Lernen genannt. Wie sich die enorme Variabilität in der Umwelt auf diesen Lernprozess auswirkt, war bislang unklar.
„In unserer Studie wollten wir herausfinden, wie das visuelle System die Herausforderung der Variabilität bewältigt und trotzdem eine hohe Lernleistung erreicht“, sagt Giorgio Manenti, Erstautor der Studie. „Bisher wurde angenommen, dass variable Reize das visuelle Lernen in erster Linie beeinträchtigen. Allerdings kann diese Variabilität auch ein großer Vorteil für das Lernen sein, da sie die Generalisierung, also die Anwendung des gelernten Verhaltens auf neue Reize, erleichtern kann. Das wurde bislang für das visuelle perzeptuelle Lernen noch nicht gezeigt.“
Die Forschenden legten ihrer Studie zwei Hypothesen zugrunde. Bei der Generalisierungsstrategie stützt sich das Lernen auf Neuronen, die unwichtige Reize ignorieren. Im Beispiel des Freistoßschützen verarbeiten sie also nur die Informationen zum Torschuss, nicht aber die verschiedenen Schusswinkel oder Entfernungen zum Tor. Diese Neuronen sitzen im Allgemeinen in höheren Stufen der sensorischen Verarbeitung. Bei der Spezialisierungsstrategie funktioniert das Lernen über Neuronen, die eng sowohl auf aufgabenrelevante als auch irrelevante Merkmale abgestimmt sind. Diese Neuronen können hochpräzise Informationen für die jeweilige Aufgabe liefern. Sie verarbeiten dabei jede Information separat. Die Aufgabenleistung ist dadurch sehr genau, es findet aber keine Generalisierung statt und bei jeder neuen Aufgabe werden neue, bislang untrainierte Neuronen benötigt, um die Reize zu verarbeiten. Spezialisierte Neuronen befinden sich in frühen Stufen der sensorischen Verarbeitung.
In dieser Studie wurden vier Gruppen von Probanden darauf trainiert, kleine Unterschiede in der Ausrichtung eines Linienmusters zu erkennen. Die relevante Aufgabe bestand darin, die Neigung der Linien im Uhrzeigersinn oder entgegen des Uhrzeigersinns zu erkennen. Dabei wurde bei jeweils zwei Gruppen die Anzahl der Linien während des Versuchs verändert. Das war der irrelevante Reiz.
„Wir konnten feststellen, dass die Variation der Linienanzahl während des Trainings zu einer besseren Generalisierung der eigentlichen Aufgabenleistung führt“, erklärt Giorgio Manenti. „Die Probanden konnten die Unterschiede in der Ausrichtung des Linienmusters trotzdem erkennen, auch wenn die Linienanzahl verändert wurde. Sie konnten die Aufgabe auch dann erfüllen, wenn ihnen ganz neue Linienmuster oder neue Positionen auf dem Bildschirm gezeigt wurden, die nicht während des Trainings erschienen waren. Die Erhöhung der Variabilität sorgte also nicht für eine Verschlechterung des Lernprozesses, sondern für eine Verallgemeinerung und damit sogar für eine bessere Lernleistung.“
Computersimulationen der Trainingsprogramme in künstlichen neuronalen Netzwerken bestätigten die Vermutung der Generalisierungsstrategie. „Insgesamt zeigt die Studie, dass durch die Trainingsart die Lernstrategie des Gehirns und damit möglicherweise auch der Ort, an dem das Lernen im Gehirn stattfindet, beeinflussbar ist“, fasst Caspar Schwiedrzik, Leiter der Forschungsgruppen Perception and Plasticity am DPZ und Neural Circuits and Cognition am ENI, die Arbeit zusammen. „Man kann auch sagen, dass das Training beim Sehen den Trainingsprinzipen beim Fußball entspricht. Bei beiden führt mehr Variabilität beim Training dazu, dass man neuen Herausforderungen besser gewachsen ist.“
Originalpublikation
Manenti GL, Dizaji Satary A, Schwiedrzik CM (2023): Variability in training unlocks generalization in visual perceptual learning through invariant representations. Current Biology, https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(23)00011-8