DPZ-Hauptseite
Menü mobile menu

Geschlechterrollen im Tierreich hängen vom Verhältnis von Weibchen und Männchen ab

Verzerrungen können verschiedene Aspekte des Sozialverhaltens beeinflussen
Ein weiblicher (links) und ein männlicher (rechts) Rotstirnmaki mit Jungtier (Mitte). Foto: Louise Peckre
Prof. Peter Kappeler ist Leiter der Abteilung Verhaltensökologie und Soziobiologie am DPZ. Foto: Claudia Fichtel
Prof. Peter Kappeler ist Leiter der Abteilung Verhaltensökologie und Soziobiologie am DPZ. Foto: Claudia Fichtel
Dr. Claudia Fichtel ist Wissenschaftlerin in der Abteilung Verhaltensökologie und Soziobiologie am DPZ. Foto: privat
Dr. Claudia Fichtel ist Wissenschaftlerin in der Abteilung Verhaltensökologie und Soziobiologie am DPZ. Foto: privat

Wie wählerisch sollten Weibchen und Männchen sein, wenn sie einen Partner auswählen? Wie heftig sollten sie um Partner konkurrieren? Und wie intensiv sollten sie sich jeweils in der Jungenaufzucht engagieren? Die Antworten auf diese Fragen hängen weitgehend vom Verhältnis zwischen erwachsenen Weibchen und Männchen in einer sozialen Gruppe, Population oder Art ab. Zu diesem Ergebnis kommt ein Wissenschaftsteam unter Beteiligung des Deutschen Primatenzentrums – Leibniz-Institut für Primatenforschung (DPZ), des Max-Planck-Instituts für biologische Intelligenz, in Gründung, und des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW). Die Arbeit ist in der Fachzeitschrift „Biological Reviews“ veröffentlicht.

Bei Tierarten mit getrennten Geschlechtern unterscheiden sich Weibchen und Männchen oft in Bezug auf Körperbau, Stoffwechsel und Verhalten. Auch das Ausmaß des Wettbewerbs um Paarungspartner, die Partnerwahl und die elterliche Fürsorge sind oft geschlechtsabhängig. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Weibchen im Allgemeinen bei der Partnerwahl wählerischer sind als Männchen, und dass Männchen eher um Paarungsmöglichkeiten konkurrieren als Weibchen. Dieses Muster wird oft als „konventionelle“ Geschlechterrollen bezeichnet. Es gibt aber auch das entgegengesetzte Muster („umgekehrte“ Geschlechterrollen). Außerdem variieren die Geschlechterrollen im Allgemeinen sowohl zwischen als auch innerhalb von Arten stark. Doch wie lässt sich diese erstaunlich große Variation der Geschlechterrollen erklären? Das Team um Peter Kappeler vom Deutschen Primatenzentrum wertete nun die Literatur zu Geschlechterrollen bei Tieren aus und stellte fest, dass das Verhältnis von erwachsenen Männchen zu Weibchen in einer Population wahrscheinlich ein starker evolutionärer Faktor für die Erklärung von Geschlechterrollen ist. Die Untersuchung zeigt auch unbeantwortete Fragen auf und macht Vorschläge für Forschungsarbeiten, die zu einem besseren Verständnis der sexuellen Selektion und der Evolution der Geschlechterrollen führen können.

Nach neueren theoretischen und empirischen Erkenntnissen spielt das Geschlechterverhältnis zwischen erwachsenen Männchen und Weibchen in einer sozialen Gruppe, Population oder Art („adult sex ratio“) eine entscheidende Rolle für die Variation der Geschlechterrollen. Obwohl man im Allgemeinen ein ausgewogenes Verhältnis von Männchen zu Weibchen (50:50) erwartet, weicht das Geschlechterverhältnis in der Natur bei einer Vielzahl von Tieren erheblich davon ab. Bei manchen Asseln beispielsweise liegt der Anteil der Männchen bei nur einem Prozent, während bei einigen Vogelarten bis zu 90 Prozent Männchen sind. Variationen im Geschlechterverhältnis können auf verschiedenen räumlichen Ebenen gemessen werden. Zum Beispiel kann das Geschlechterverhältnis von sozialen Arten zwischen benachbarten Gruppen erheblich variieren. So ergaben Langzeituntersuchungen große Unterschiede im Geschlechterverhältnis zwischen Gruppen von Tüpfelhyänen (Crocuta crocuta). „Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der sozialen Dominanz – ein Merkmal, das direkt mit den Geschlechterrollen zusammenhängt – hängen bei Tüpfelhyänen von der Gruppenzusammensetzung ab. Wir müssen aber noch herausfinden, ob das Geschlechterverhältnis das Konkurrenzverhalten von Weibchen und Männchen beeinflusst“, sagt Oliver Höner, Leiter des Ngorongoro-Hyänenprojekts am Leibniz-IZW und Co-Autor des Aufsatzes.

„Es wäre auch interessant herauszufinden, ob sich Veränderungen im Geschlechterverhältnis von Hyänengruppen auf die Leistungsfähigkeit dieser Gruppen und der Gesamtpopulation auswirken“, ergänzt Sarah Benhaiem, Leiterin des Serengeti-Tüpfelhyänenprojekts am Leibniz-IZW und Co-Autorin des Aufsatzes. Auch innerhalb von Gruppen kann das Geschlechterverhältnis im Laufe der Zeit erheblich schwanken. Die Bedeutung dieser Schwankungen hängt natürlich von der Lebensgeschichte und der Generationszeit einer bestimmten Art ab, aber der springende Punkt ist, dass das lokale Geschlechterverhältnis in einem bestimmten Lebensraum nicht unbedingt stabil ist.

Das Geschlechterverhältnis kann mehrere Komponenten der Geschlechterrollen beeinflussen. Bei Grillkuckucken (Centropus grillii) zum Beispiel gibt es deutlich mehr Männchen als Weibchen, was mit vermehrtem weiblichem Wettbewerb und ausschließlich männlicher Brutpflege verbunden ist. „Wir liefern die erste systematische Übersicht über die Auswirkungen von Verzerrungen des Geschlechterverhältnisses auf Partnerwahl, Geschlechterkonflikte, elterliche Brutfürsorge, Paarungssysteme, Sozialverhalten, Hormonphysiologie und Fitness", sagt Wolfgang Goymann vom Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz, in Gründung, und Mitautor des Fachaufsatzes. Ein Beispiel sind Hormone: Sie spielen eine Schlüsselrolle in der Regulation von Konkurrenz, der Interaktion mit Paarungspartnern und des elterlichen Verhaltens. Die Hormonspiegel selbst wiederum können durch solche Interaktionen beeinflusst werden. Einer der besten Belege für einen Zusammenhang stammt aus einer Studie am Menschen: Bei einem Frisbee-Turnier beeinflusste das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Zuschauern den Testosteronspiegel der Spieler beider Geschlechter.

Abgesehen von diesen Beziehungen zwischen dem Geschlechterverhältnis und den Geschlechterrollen können Unterschiede in der Anzahl der Weibchen und Männchen auch für Naturschutzbelange von Bedeutung sein. Bei vielen Arten wird das Geschlecht eines Individuums nicht genetisch, sondern durch abiotische Umweltfaktoren wie beispielsweise der Umgebungstemperatur bestimmt. Bei diesen Arten können die Auswirkungen des Klimawandels zu extremen Verzerrungen des Geschlechterverhältnisses führen und somit die Populationsdemografie und -genetik beeinflussen. Bei Zauneidechsen (Lacerta viviparia) führte beispielsweise ein Überschuss an Männchen zu verstärkter Aggression gegenüber den Weibchen, deren Überlebensrate und Fruchtbarkeit in der Folge abnahmen. Dadurch verstärkte sich der männliche Anteil weiter, und die Größe des gesamten Bestandes der Art ging dramatisch zurück. Die möglichen Auswirkungen von Verzerrungen im Geschlechterverhältnis auf die Populationsdynamik könnten daher auch für Naturschutzmaßnahmen von Bedeutung sein.

Originalpublikation

Kappeler PM, Benhaiem S, Fichtel C, Fromhage L, Höner OP, Jennions MD, Kaiser S, Krüger O, Schneider JM, Tun, C, van Schaik J, Goymann, W (2022): Sex roles and sex ratios in animals. Biol Rev. DOI: 10.1111/brv.12915