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Einblicke in die Evolution des Gerechtigkeitsempfindens

Javaneraffen reagieren enttäuscht, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden
Javaneraffen (Macaca fascicularis) in der Tierhaltung am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen. Foto: Anton Säckl
Ein Javaneraffe (Macaca fascicularis) bedient im Verhaltensexperiment einen Hebel, um belohnt zu werden. In den roten Karussels werden hochwertige Belohnungen (Traube) und minderwertige Belohnungen (Paprika) präsentiert. Teilt ein Mensch dem Affen Paprika zu, reagiert er frustriert, nicht jedoch, wenn die Belohnung automatisch zugeteilt wird. Screenshot: Jana Wilken, Video: Rowan Titchener/DPZ
Ein Javaneraffe (Macaca fascicularis) bedient im Verhaltensexperiment einen Hebel, um belohnt zu werden. In den roten Karussels werden hochwertige Belohnungen (Traube) und minderwertige Belohnungen (Paprika) präsentiert. Teilt ein Mensch dem Affen Paprika zu, reagiert er frustriert, nicht jedoch, wenn die Belohnung automatisch zugeteilt wird. Screenshot: Jana Wilken, Video: Rowan Titchener/DPZ
Schematische Darstellung der vier Variationen des Versuchsaufbaus: a) Mensch gibt Futter/Artgenosse anwesend, b) Mensch gibt Futter/Artgenosse abwesend, c) Automat gibt Futter/Artgenosse anwesend und d) Automat gibt Futter/Artgenosse abwesend. Abbildung: Rowan Titchener
Schematische Darstellung der vier Variationen des Versuchsaufbaus: a) Mensch gibt Futter/Artgenosse anwesend, b) Mensch gibt Futter/Artgenosse abwesend, c) Automat gibt Futter/Artgenosse anwesend und d) Automat gibt Futter/Artgenosse abwesend. Abbildung: Rowan Titchener
Rowan Titchener, Promovierende an der Georg-August-Universität Göttingen und Gastwissenschaftlerin der Abteilung Kognitive Ethologie am Deutschen Primatenzentrum. Sie interessiert sich für soziale Kognition bei Primaten. Foto: Karin Tilch
Rowan Titchener, Promovierende an der Georg-August-Universität Göttingen und Gastwissenschaftlerin der Abteilung Kognitive Ethologie am Deutschen Primatenzentrum. Sie interessiert sich für soziale Kognition bei Primaten. Foto: Karin Tilch

Gerechtigkeitsempfinden galt lange als rein menschlich – aber auch Tiere reagieren frustriert bei unfairer Behandlung durch eine Person. In einem bekannten Video ist beispielsweise zu sehen, wie Affen ihre Trainerin mit der angebotenen Gurke bewerfen, wenn ein Artgenosse für die gleiche Aufgabe süße Weintrauben als Belohnung erhält. Inzwischen haben Forschende ähnlich frustrierte Reaktionen auf unfaire Behandlung auch bei Wölfen, Ratten und Krähen beobachtet. Wie dieses Verhalten interpretiert werden sollte, ist jedoch umstritten: Beruht die Frustration wirklich auf einer Abneigung gegen Ungleichbehandlung oder gibt es eine andere Erklärung? Forschende am Deutschen Primatenzentrum – Leibniz Institut für Primatenforschung (DPZ) haben dies unter Beteiligung der Abteilungen Kognitive Ethologie und Neurobiologie in einer Studie mit Javaneraffen untersucht. Das Team um Rowan Titchener, Doktorandin an der Georg-August-Universität Göttingen und der Abteilung Kognitive Ethologie am DPZ, konnte zeigen, dass Javaneraffen eine minderwertige Belohnung häufiger ablehnen, sofern diese von einer Person ausgewählt und zugeteilt wird. Erfolgt die Zuteilung dagegen durch einen Futterautomaten, nehmen sie die Belohnung häufiger an. Die Forschenden schließen daraus, dass die Javaneraffen sich aus sozialer Enttäuschung über den Menschen verweigern – und nicht etwa, weil sie sich im Vergleich zu einem Artgenossen benachteiligt fühlen (Royal Society Open Science).

Menschen haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Wenn wir der Meinung sind, dass Ressourcen ungerecht oder falsch verteilt sind, machen wir dies deutlich – mit Protest. Dieses Kontrollverhalten fördert eine erfolgreiche Zusammenarbeit und erklärt zum Teil, warum sich Kooperation in der Evolution des Menschen als erfolgreiche Strategie durchsetzen konnte.

Gleiche Leistung, gleicher Lohn
Allerdings protestieren nicht nur Menschen, wenn die gleiche Leistung ohne ersichtlichen Grund unterschiedlich belohnt wird. Auch viele Tiere begnügen sich nicht mit einer als vergleichsweise minderwertig empfundenen Belohnung und reagieren frustriert. Die typischen Verhaltensmuster lassen sich im Experiment artübergreifend bei Vögeln, Nagetieren und Affen zuverlässig reproduzieren. Dagegen ist unter den Forschenden umstritten, wie das Protestverhalten interpretiert werden kann. Beruht die Frustration der Tiere auf einem Vergleich der eigenen Belohnung mit der des Artgenossen, wiese das auf einen Sinn für Gleichbehandlung hin.

Die Wurzel der Enttäuschung
In der aktuellen Studie testeten die Forschenden drei alternative Erklärungsansätze für das Protestverhalten bei Ungleichbehandlung. Die erste untersuchte Hypothese beruft sich auf eine „Abneigung gegen Ungleichbehandlung“ (inequity aversion) und setzt den sozialen Vergleich mit Artgenossen und einen Sinn für Gerechtigkeit voraus. Die Idee hierbei ist, dass das Belohnungs-Muster zwischen sich selbst und Anderen abgeglichen und als unfair empfunden wird. Die Zweite, „Futter-Erwartung“ (food expectation), nimmt die Sichtbarkeit des attraktiven Futters als Auslöser für Frustration an. Ist also eine hochwertige Belohnung zu sehen, würde das Tier erwarten, diese zu erhalten. Die dritte Hypothese beruht auf „Sozialer Enttäuschung“ (social disappointment) über die Entscheidung des Trainers, eine minderwertige Belohnung zu geben. Dahinter steht eine Erwartungshaltung, vom verantwortlichen Menschen bestmöglich belohnt zu werden.

Enttäuschender Mensch
Die Ergebnisse der aktuellen Studie an Javaneraffen decken sich sehr gut mit einer bereits veröffentlichten Schimpansen-Studie. Rowan Titchener, Hauptautorin der Studie, meint: „Die Reaktionsmuster der Tiere lassen sich am besten mit einer Frustration über die Entscheidungen des menschlichen Trainers erklären. Hiermit sprechen die aktuellen Ergebnisse für die dritte Hypothese, beruhend auf sozialer Enttäuschung“. Für diese Deutung spricht insbesondere, dass die Javaneraffen eine minderwertige Belohnung von einem Futterautomaten häufiger annahmen, als vom Menschen.

Versuchsaufbau
Die Forschenden konfrontierten die Affen im Versuch mit vier verschiedenen Szenarien. Hierbei blieb der Ablauf immer gleich: Auf die Betätigung eines Hebels folgte die Belohnung mit minderwertigem Futter, das mit einem kleinen Förderband in Reichweite gebracht wurde. Hochwertige Belohnungen lagen sichtbar bereit, blieben aber unerreichbar. Der Versuchsaufbau wurde in zweierlei Hinsicht variiert: Erstens teilte entweder ein Mensch die Belohnung zu, oder sie wurde per Futterautomat spendiert, zweitens war das Tier entweder allein, oder es löste ein Artgenosse die gleiche Aufgabe in Sichtweite, erhielt aber hochwertigere Belohnungen.

Klares Ergebnis
Die Affen verweigerten fast nie ihre Belohnung, wenn diese vom Futterautomaten spendiert wurde – dagegen aber in über 20 Prozent der Versuche, in denen ein Mensch das Futter zuteilte. Dieses Verhaltensmuster passt zu einer sozialen Enttäuschung über den Menschen, der entscheidet, ihnen die schlechtere Belohnung zu geben. „An einen Automaten richten die Affen keine sozialen Erwartungen und werden daher auch nicht enttäuscht“, fasst Titchener zusammen.

Stefanie Keupp, Leiterin der Studie am Deutschen Primatenzentrum, schließt daraus: „Das Verhalten der Javaneraffen in unserer Studie lässt sich am besten durch eine Kombination aus sozialer Enttäuschung über den menschlichen Versuchsleiter und ein gewisses Maß an Nahrungskonkurrenz erklären“.

Originalpublikation
Titchener R., Thiriau C., Hüser T. et al. Social disappointment and partner presence affect long-tailed macaque refusal behaviour in an ‘inequity aversion’ experiment. Royal Society Open Science 10: 221225 (2023). doi.org/10.1098/rsos.221225