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Molekulare Evolution im Hoden

Internationales Team bringt die Grundlagenforschung über Spermien voran
Querschnitt durch ein Samenkanälchen im Hoden eines Rhesusaffen. Die gesamte Länge aller Samenkanälchen in den Hoden eines Mannes beträgt zwischen 500 und 1000 Meter. In den Samenkanälchen werden mit Unterstützung durch weitere Zelltypen fortlaufend die Spermien aus Keimzellvorstufen produziert. Abbildung: Rüdiger Behr/Jana Wilken
Prof. Dr. Rüdiger Behr, Leiter der Forschungsplattform Degenerative Erkrankungen am DPZ. Foto: Karin Tilch
Prof. Dr. Rüdiger Behr, Leiter der Forschungsplattform Degenerative Erkrankungen am DPZ. Foto: Karin Tilch
Männlicher Bonobo (Pan paniscus). Foto: AdobeStock
Bei Bonobos (Pan paniscus) paaren sich die Weibchen oft mit mehreren Männchen nacheinander, sodass die Spermien direkt darum konkurrieren, die Eizelle zu befruchten. Ein Männchen, das im Vergleich zu seinen Mitstreitern einen größeren Hoden hat und mehr Spermien ins Rennen schickt, hat daher bessere Chancen, Nachkommen zu zeugen. Im Laufe der Evolution haben Bonobos daher größere Hoden entwickelt, als nah verwandte Arten wie der Gorilla oder der Mensch. Foto: AdobeStock

Spermien und Eizellen sind für alle Säugetiere unverzichtbar, um sich fortpflanzen zu können. Eine erfolgreiche Fortpflanzung ist wiederum evolutionär gesehen essentiell, denn über die Keimzellen werden genetische Eigenschaften an die nächste Generation weitergegeben. Wenn ein Spermium eine Eizelle befruchtet, entsteht ein neues Individuum mit seiner eigenen einmaligen Kombination von Erbanlagen, die die Entwicklung aller Organe und somit auch des gesamten Organismus steuert. Männliche Säugetiere produzieren im Hoden jeden Tag viele Millionen Spermien. Der evolutionäre Druck auf die Männchen, in der Fortpflanzung gegen Konkurrenten erfolgreich zu sein, sorgt für eine schnelle Anpassung der Fortpflanzungsorgane, die auf molekularer Ebene noch nicht gut verstanden ist. Ein internationales Team aus Genetiker*innen, Evolutions- und Reproduktionsbiolog*innen hat jetzt die molekularen und zellulären Grundlagen der Spermienproduktion bei Säugetieren und die damit verbundenen selektiven Kräfte untersucht. Darüber hinaus schafften die Forscher*innen mit ihrer Veröffentlichung eine umfangreiche Ressource für alle, die sich mit den biologischen Grundlagen des Säugetierhodens befassen (Nature).

Die Forscher*innen verglichen in den Hoden verschiedener Säugetierarten, wie die Gene in den verschiedenen Entwicklungsstadien der Spermien abgelesen werden. Vom Deutschen Primatenzentrum war Rüdiger Behr, Leiter der Plattform Degenerative Erkrankungen am DPZ, an den Forschungen beteiligt, die an den Hoden von sechs Affenarten und des Menschen sowie der Maus, eines Schnabeltiers und eines Beuteltiers stattfanden. Die neuen Erkenntnisse ermöglichen es den Forscher*innen, Muster in der Genexpression zwischen näher und weniger nah verwandten Arten, nachzuvollziehen. Auf Basis dieses grundlegenden Wissens kann nun zielgerichteter nach den Ursachen der Unfruchtbarkeit von Männern geforscht werden, die aus bisher unbekannter Ursache keine Spermien produzieren können.

„Die Qualität und Zahl der Spermien hat einen großen Einfluss auf den Fortpflanzungserfolg jedes Säugetiermännchens. Daher wirken besonders starke selektive Kräfte auf Merkmale, die im Zusammenhang mit der Spermienproduktion stehen“, erklärt Rüdiger Behr. Beispielsweise ist die Anzahl der Spermien, die produziert werden muss, um erfolgreich Nachkommen zu zeugen, abhängig vom Fortpflanzungssystem der Art. Deshalb können auch nah miteinander verwandte Arten mit verschiedenen Fortpflanzungssystemen zum Beispiel sehr unterschiedlich große Hoden haben.

Dagegen bleiben einmal in der Evolution entstandene grundlegende Eigenschaften, die die Fruchtbarkeit der Spermien sichern, über Millionen von Jahren und über Artgrenzen hinweg erhalten. Das gleiche evolutionäre Prinzip ist auch auf molekularer Ebene der Spermienproduktion, der sogenannten Spermatogenese, wiederzufinden. Im Rahmen der jetzt veröffentlichten Studie identifizierten die Forscher*innen erstmals konservierte Genexpressionsprogramme in der Spermatogenese, die das erprobte Basisprogramm für die Spermienproduktion aller Säugetiere ausmachen.

Säugetiere haben gemeinsam, dass bei der Spermatogenese aus undifferenzierten Stammzellen im Hoden Spermien reifen. Damit bis zum Lebensende Spermien produziert werden können, dürfen aber nicht alle Stammzellen zeitgleich zu Spermien reifen. Um ein dauerhaftes Reservoir an Stammzellen zur künftigen Spermienproduktion zu erhalten, muss sich also ein Gleichgewicht zwischen der Produktion neuer, undifferenzierter Stammzellen und differenzierter Tochterzellen einstellen. So kann einerseits der aktuelle Bedarf an Spermien gedeckt werden. Andererseits bleiben durch Selbsterneuerung genügend Stammzellen erhalten, um auch künftig Spermien produzieren zu können.

In der jetzt veröffentlichten Studie gelang es den Forscher*innen erstmals, die einzelnen Zellkerne verschiedener Vorläuferzellen der Spermien in der Spermatogenese voneinander zu trennen und die molekularen Abläufe zwischen Säugetierarten zu vergleichen. Dafür analysierten die Wissenschaftler*innen die Genexpressionsmuster in den verschiedenen Zelltypen mit Hilfe des so genannten „single nucleus RNA profiling“. Sie untersuchten mit dieser Methode die spermatogenen Zellen zehn verschiedener Säugetiere inklusive des Menschen.

Mit einer Stammbaumanalyse dieser Daten konnten die Forscher*innen rekonstruieren, welche molekularen und zellulären Prozesse der Spermienproduktion bei allen Säugetieren gleich ablaufen und wo sich die Arten nach Verwandtschaftsgrad voneinander unterscheiden. Die Forscher*innen stellten fest, dass eine schnelle Evolution der Hoden speziell in späten Stadien der Spermatogenese vorangetrieben wird. Konkret dafür verantwortlich sind neu entstehende Gene und beschleunigte Prozesse beim Ablesen der Gene und Austauschen von Aminosäuren. Außerdem ergab die Analyse, dass sich auch der Zeitpunkt der Expression an sich gleicher Gene zwischen verschiedenen Arten verändert hat, was zur Entstehung artspezifischer Eigenheiten beigetragen haben könnte.

Den umfangreichen Datensatz haben die Autor*innen für zukünftige Projekte allgemein verfügbar gemacht. „Für mich persönlich ist besonders spannend, dass wir in den einzelnen Entwicklungsstadien der Spermien humanspezifische Geneexpressionsmuster finden konnten. Das bedeutet insgesamt, dass wir Menschen bei der Spermatogenese einerseits große Ähnlichkeit mit unseren nächsten Verwandten haben, uns andererseits aber in wichtigen Details schon deutlich voneinander unterscheiden“, sagt Rüdiger Behr.

Originalpublikation
Murat F, Mbengue N, Winge SB, Trefzer T, Leushkin E, Sepp M, Cardoso-Moreira M, Schmidt J, Schneider C, Mößinger K, Brüning T, Lamanna F, Belles MR, Conrad C, Kondova I, Bontrop R, Behr R, Khaitovich P, Pääbo S, Marques-Bonet T, Grützner F, Almstrup K, Schierup MH, Kaessmann H (2022): The molecular evolution of spermatogenesis across mammals. Nature, DOI: 10.1038/s41586-022-05547-7
https://www.nature.com/articles/s41586-022-05547-7